Barrierefreiheit scheitert bisher am politischen Willen!

Marcel W. Buess

Am 1. Januar 2004 trat das «Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (BehiG)» in Kraft. Mit dem BehiG wird der in Artikel 8 der Bundesverfassung verankerte Auftrag, «Benachteiligungen der Behinderten zu beseitigen», konkretisiert. Das Gesetz enthält insbesondere Vorschriften, wie die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Menschen mit Behinderungen ermöglicht werden soll. Dafür sind konkrete Massnahmen in folgenden Bereichen vorgesehen: Bauen und Anlagen, öffentlicher Verkehr, Dienstleistungen, Schule, Aus- und Weiterbildung sowie Beschäftigung beim Bund. Bei der Umsetzung entsprechender Massnahmen gilt es aber, das Prinzip der Verhältnismässigkeit zu beachten. Es müssen auch andere legitime Interessen berücksichtigt werden – zum Beispiel der wirtschaftliche Aufwand, der Naturschutz oder die Betriebssicherheit. Die verschiedenen Interessen in Einklang zu bringen und die Verhältnismässigkeit der zu treffenden Massnahmen zu wahren, gleicht oft einem Balanceakt und erfordert von allen Interessengruppen Augenmass und den Respekt vor übergeordneten Aspekten.

Wo stehen wir heute? Bei der Beantwortung dieser Frage steht vor allem die Situation im öffentlichen Verkehr (ÖV) unseres Landes in der Kritik. Gemäss dem BehiG sollte der ÖV innerhalb von 20 Jahren frei zugänglich, also barrierefrei sein. Von der Erfüllung dieses wichtigen Ziels sind wir aber noch weit entfernt. Nach wie vor gibt es über 500 Bahnhöfe in unserem Land, welche diesem Erfordernis nicht gerecht werden. Noch eklatanter sieht es beim Nahverkehr, konkret bei den Bus- und Tramhaltestellen aus – hier sind es laut der Einschätzung von Experten sogar beinahe zwei Drittel, welche dem BehiG nicht gerecht werden. Diese Situation ist nicht nur gesetzeswidrig, sondern auch inakzeptabel. Ich schätze, sie wurde nicht absichtlich herbeigeführt. Vielmehr liegt die Misere in der föderalistischen Struktur unseres Landes, in den unterschiedlichen Zuständigkeiten und – last, but not least – bei den öffentlichen Finanzen begründet.

Im Verkehrsbereich existiert bis heute kein koordiniertes Gesamtkonzept. Auch fehlt es am politischen Willen, die Beförderung von mobilitätsbehinderten Menschen vollumfänglich, das heisst auch die weiterhin notwendigen privatwirtschaftlich betriebenen Behindertentransportdienste, in das System des öffentlichen Verkehrs zu integrieren. Nachdem es innerhalb der eigentlich verbindlichen Frist von 20 Jahren nicht möglich war, einen flächendeckenden barrierefreien ÖV zu bewerkstelligen, bedarf es wohl oder übel

einer neuen, vor allem durchsetzbaren Frist. Die schweizerischen Behindertenorganisationen fordern, dass im Rahmen der anstehenden Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes eine solche Fristsetzung stattfindet. Damit die Umsetzung bis spätestens 2030 abgeschlossen ist, bedarf es aber flankierender Massnahmen. Im Bahnverkehr muss das Bundesamt für Verkehr (BAV) in viel stärkerem Masse die zentrale Verantwortung übernehmen. Und im Nahverkehr müssten die Kantone und Gemeinden ver- bindlicher in die Pflicht genom- men werden – nötigenfalls unter der Koordination des Bundes. Schliesslich wird der Bundesrat für eine solide und vor allem

ausreichende zweckgebundene Finanzierung sorgen müssen. Die barrierefreie Mobilität von Menschen mit Behinderungen darf nicht als Stiefkind behandelt und gegebenenfalls wegen anderer, vor allem haushälterischer Prioritäten zurückgestellt werden.


MARCEL W. BUESS
Präsident IVB Behindertenselbsthilfe beider Basel

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