«Totgesagte leben länger!» – Kaum ein Zitat trifft besser auf das Basler Kult- und Musik-Lokal Atlantis zu, das dieses Jahr auf eine 70-jährige Geschichte zurückblicken kann.
Und weil seit einiger Zeit – und in Zukunft sogar verstärkt – wieder Live-Musik in den Gemäuern am Klosterberg dargeboten wird, darf sich das «-tis» durchaus auch wieder als «Live-Musik-Lokal» bezeichnen, nachdem es sich über viele Jahre vor allem als Restaurant, Lounge, Bar & Club definiert hat. Inwieweit die partielle Rückbesinnung auf die Wurzeln und die Vergangenheit dazu reichen, dass das «-tis» seinen Kultstatus wiedererlangt, ist vermutlich völlig unerheblich, und die Fragestellung möglicherweise lediglich einer post-faktischen Betrachtungsweise geschuldet, welche wir dennoch – oder gerade deshalb – aus unserem durch die Jahrzehnte durchaus nicht immer ungetrübten Erinnerungsschatz ableiten! Was die vermuteten Fakten zum «-tis» und seiner Geschichte anbelangt, sei auf das – leider vergriffene – Buch «See You Later, Alligator» von Eva Matti-Zünd, René Lorenceau und René Matti, die vor allem die «wilden Spät-1960er- und 1970er-Jahre» direkt miterlebt haben, hingewiesen. Rechtzeitig zum 70-Jahr-Jubiläum wird zudem im Christoph-Merian-Verlag die Publikation (inkl. Musik-CD) «Atlantis Basel: Kult und Kultur seit 1947» von Christian Platz und Marc Krebs die nächsten Tage erscheinen. Die beiden Autoren, die durch «die Gnade der späteren Geburt» vor allem auch auf die Erinnerungen beteiligter (und noch lebender) Personen abstellen müssen, zeichnen ein sorgfältig recherchiertes Bild einer Institution, welche in ihrer wechselhaften Geschichte Spielort für zahlreiche Höhepunkte in der Schweizer Jazz- und Rockgeschichte war und für einige Zeit zum bekanntesten Musiklokal der Schweiz wurde.
Wie alles begann
Zum besseren Verständnis müssen an dieser Stelle dennoch ein paar Eckdaten und Personen zum «-tis» genannt werden, denn die Vergangenheit – je länger sie vom Heute entfernt ist, und vor allem, wenn Jubiläen gefeiert werden – hat enorm viele Väter (und Mütter), der Zahn der Zeit nagt aber hin und wieder am Erinnerungsvermögen tatsächlicher und mutmasslicher Protagonisten.
1947 eröffneten die beiden Afrikaforscher Paul und Kurt Seiler in der Steinen das Café Atlantis, in der neben afrikanischer Kunst auch allerlei lebendes Getier zu sehen und Barpianisten sowie vornehmlich Jazzmusik zu hören war. 1956 musste das Atlantis seinen Standort, an dem das Kino Plaza nun hochgezogen wurde, verlassen und eröffnete 1957 am Klosterberg 13 das «neue» Atlantis. Am neuen Ort bekam nicht nur Alligator Hektor seinen eigenen Pool – damals gab es noch keinen WWF, der sich Gedanken über die doch einigermassen einmalige Raubtierhaltung in rauchgeschwängerter Luft und lärmiger Umgebung machte –, vor allem aber brach jetzt eine Zeit an, in der bekannte lokale, nationale und internationale Jazz- und Bluesmusiker wie George Gruntz, Isla Eckinger, Peter Schmidli, Joe Turner oder Champion Jack Dupree den Ruf des «-tis» begründeten.
Gegen Ende der 1960er-Jahre wurden allerdings auch im «-tis» die Haare länger und die Musik lauter. Neben Jazzmusikern traten nun Unterhaltungsorchester und Beatbands auf. So konnte man zu Cola und Gauloises schon ab 16 Uhr nachmittags, anstatt in den Konfirmationsunterricht zu gehen, zum Beispiel die Sauterelles hören, um dann anschliessend zwei Stunden mit dem Solex durch die Stadt zu fahren, damit Muttern zuhause nicht den Zigarettenrauch in den Kleidern roch (leider vergeblich), galt doch ein Besuch im Atlantis als Vorstufe zum Absturz ins beginnende Hippietum! Unvergessen auch die gelegentlichen Auftritte von Besitzer Kurt Seiler, der zusammen mit Freundinnen den exotisch eingerichteten Teil im Obergeschoss des Gebäudes bewohnte und hin und wieder während der sonntäglichen Jazz-Matinees den Strom abstellte, weil er sich in seiner Ruhe gestört fühlte.
Zu Beginn der 1970er-Jahre wurde die Stimmung im «-tis» zunehmend angespannt. Die Angst vor Langhaarigen und vermeintlichem und tatsächlichem Rauchen exotischer Substanzen – vulgo Drogenmissbrauch – führten immer mehr zu unerfreulichen Szenen vornehmlich im Eingangsbereich. Verschiedene Pächterwechsel sowie damit verbundene Konzeptwechsel – so wurde zum Beispiel das Lokal für kurze Zeit zum Boulevard-Theater umfunktioniert – ruinierten den Ruf des Lokals, das dann im Sommer 1975 geschlossen wurde.
Neuanfang, Höhepunkte und Schwanengesang
Mit einer neuen Führungscrew namentlich unter der Leitung des Basler Fotografen und Musikliebhabers Onorio Mansutti sowie dem Wirteehepaar Eddi und Cécile Cassini wurde bereits im Herbst 1975 das Atlantis wiedereröffnet. Nun gab es Alkohol, einen Restaurationsbetrieb und vor allem entstand nun am Klosterberg ein gesellschaftlicher und kultureller Treffpunkt, in dem sich «tout Bâle» traf. Internationale und nationale Rock- und Jazzstars gaben sich quasi wöchentlich die Klinke in die Hand. Teilweise legendär sind die Auftritte von Black Sabbath, Arthur Brown, Michel Polnareff, Stan Webb, Steve Mariott, Mitch Mitchell, Django Edwards, Dr. Felgood, Stevie Ray Vaughan, Chet Baker, Billy Cobham, Philip Cathérine, John Scofield – um nur ein paar wenige Namen zu nennen. Auch die Basler Rockszene konnte sich auf der Bühne des «-tis» austoben (und an den beiden Bars ihren Durst löschen!), eigene Kabarett-Produktionen, wie das legendäre «Cabaret local», sorgten für Gesprächsstoff in der ganzen Stadt, Kunstversteigerungen für die Onorio-Mansuttis-Stiftung «Kinder in Brasilien» brachten Glamour in die Hütte, oder Konzerte und Talkshows wurden live im Radio übertragen, ja selbst Literatur, zum Beispiel mit Allan Ginsberg, fand im Atlantis statt. Kurzum: Im «-tis» war Tag für Tag etwas los, das Lokal war gleichzeitig Konzertsaal, Kantine, Meeting-Point, Kontaktbörse und Pausenzimmer für die Schülerinnen und Schüler der umliegenden Schulhäuser.
Gegen Ende der 1990er-Jahre neigten sich aber auch diese goldenen Zeiten dem Ende zu. Der Betrieb eines Lokals mit Live-Musik und gleichzeitiger Gastronomie war nicht mehr zu finanzieren, ausserdem sorgten die durch die Musik entstandenen Lärmemissionen immer mehr für Ärger mit der Anwohnerschaft. 1998 schloss das Lokal mit einigen Nebengeräuschen und eine Ära ging definitiv zu Ende.
Comeback
1999 wurde aber das Atlantis unter der Leitung von Jürg Wartmann mit neuem Konzept bereits wiedereröffnet. Nun rückten vor allem Club Nights mit bekannten DJs in den Mittelpunkt, und der Speise-Gastronomie wurde mehr Platz eingeräumt. Ausserdem wurde das «-tis» seit 2006 mehrmals umgebaut sowie renoviert und den veränderten Publikumsbedürfnissen angepasst. 2014 übergab Jürg Wartmann die Geschäftsleitung an Claudia Danuser. Heute ist das Atlantis gleichzeitig Restaurant – inklusive Sonnenterrasse in der warmen Jahreszeit und für Events im «Hektor’s Room für bis zu 30 Personen – Lounge, Bar & Club und – wie zu Beginn erwähnt – auch wieder ein Ort für regelmässige Konzerte. So konnte zum Beispiel eine längerfristige Zusammenarbeit mit den Basler Konzertveranstaltern von «Groove Now» aufgegleist werden, um exklusive Konzerte im Bereich Blues, Rhythm’n’Blues und Soul im Atlantis durchzuführen.
Das «-tis» lebt also weiter – der Status als Szene-Kultstätte steht dabei allerdings kaum mehr im Vordergrund. Die aufgespannte Haut des verblichenen Alligators Hektor über der Bar im Erdgeschoss erinnert noch an alte Zeiten, die allerdings auch nicht immer so glorreich, dafür umso turbulenter waren!