Wertschätzung, Menschlichkeit und Vertrauen

Emotionale Intelligenz bei der Polizei

Die 48-jährige Claudia Räber war 24 Jahre lang als Polizistin bei der Polizei Basel-Landschaft tätig. Sie leitete zuletzt die Grundausbildung und war stellvertretende Leiterin der Aus- und Weiterbildung. Jetzt hat sie den Weg in die Selbstständigkeit gewagt.

Interviewpartnerin: Claudia Räber
Autor: Markus Nobs

PRESTIGE BUSINESS: Frau Räber, Sie sprechen sich dafür aus, dass das Thema «Emotionale Intelligenz» speziell in Polizeiorganisationen einen noch wichtigeren Stellenwert erhalten sollte. Gerade die Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu verstehen und die der Mitmenschen wahrnehmen zu können, sollte aber doch bereits heute eine Schlüsselkompetenz jeder Polizistin und jedes Polizisten darstellen, oder nicht?

Claudia Räber: Auf jeden Fall sollte die Fähigkeit der emotionalen Intelligenz eine Kernkompetenz von Polizistinnen und Polizisten sein und es sollte bei der Rekrutierung bereits darauf geachtet werden. Wer, wenn nicht die Polizei, hat tagtäglich mit Menschen in unterschiedlichsten Situationen zu tun? Wie hoch oder wie wichtig der Stellenwert dieser Fähigkeit aktuell in den Polizei-organisationen allerdings ist, darüber bin ich mir nicht sicher. Dieser Fähigkeit wird sicherlich zu wenig Beachtung geschenkt, obwohl sie eine Schlüsselkompetenz ist. Es wird zwar erwartet, dass die Polizistin oder der Polizist bei schwierigen Einsätzen angemessen und professionell reagiert und in Situationen vorbildlich sowie ruhig und gelassen handelt – das ist aber einfacher gesagt als getan. Das wissen alle Polizistinnen und Polizisten, die an der Front arbeiten. Zu dieser Fähigkeit gehören die Selbstwahrnehmung und das Selbstmanagement sowie das soziale Bewusstsein und das Beziehungsmanagement. Dabei geht es um Selbstbeherrschung und Taktgefühl, um die eigenen Stärken und Schwächen sowie darum, seine Triggerpunkte zu kennen. Und jeder von uns hat Triggerpunkte, die Emotionen auslösen können – meist negative. Wer von uns hat nicht schon mal bereut, was er gesagt oder getan oder wie er reagiert hat? Wir sind getrieben von Emotionen und sagen oder machen Dinge, die wir im Nachhinein bereuen. Und im Polizeiberuf kann man sich das wenig bis nicht leisten. Die Polizei wird bei Einsätzen gefilmt und dann werden diejenigen Ausschnitte auf Social Media gezeigt, bei welchen die Emotionen durch die Polizei ausser Kontrolle geraten sind. Das ist «gefundenes Fressen» für die Medien und schadet der Reputation. Aber dass die Polizisten auch nur Menschen sind, wird dabei nicht beachtet. Sie müssen professionell bleiben. Allgemein sind in dieser hektischen Zeit die Ansprüche und Anforderungen an Polizistinnen und Polizisten auch seitens der Bevölkerung gestiegen. Auch als Führungsperson bei der Polizei ist es meiner Meinung nach zwingend notwendig, dass diese ein gutes Mass an EQ (emotionaler Intelligenz) besitzt und dementsprechend menschenorientiert führt. Dadurch kann sie Mit- arbeitende motivieren, das Team und somit das Commitment zur Organisation stärken und Vertrauen aufbauen. Das wirkt sich positiv auf die Polizeikultur aus. Eine moderne Führungsperson mit EQ zeichnet sich durch empathisches Leadership und nicht durch ihre Anzahl Sterne auf den Schulterpatten aus. Das mag Fachwissen oder langjährige Diensterfahrung zeigen, heisst aber noch lange nicht, dass diese Person ein moderner Leader ist.

Wie erleben Sie dies in Ihrer Praxisarbeit? Weshalb sind die Polizeiorganisationen in der Schweiz heute noch nicht so weit, wie sie eigentlich sein sollten?

Polizeiorganisationen setzen in Aus- und Weiterbildungen den Fokus meistens auf die Führung im Polizeieinsatz (FIP) mit dem Prozess der Führungstätigkeiten. Das ist auch richtig und wichtig und dient als roter Faden für die Polizistinnen und Polizisten in ihrer täglichen Arbeit, damit sie in Einsätzen die Führungstätigkeiten kennen und diese standardmässig gut meistern sowie die Fälle abarbeiten können. Nur schliesst das eine das andere ja nicht aus. Es gehört meiner Meinung nach ebenso zentral dazu, wie sich die Polizistinnen und Polizisten während oder nach den Einsätzen gefühlt haben und was diese mit ihnen als Mensch «gemacht» haben. Der Emotionsarbeit wird zu wenig Beachtung geschenkt. Jede Polizistin und jeder Polizist hat ihren/seinen eigenen Lebensrucksack und reagiert anders auf Einsätze. Und man muss als Typ Mensch nicht hart sein, nur weil man in einer Polizeiorganisation arbeitet. Man darf Gefühle zeigen – dies zeugt von Stärke und Menschlichkeit. Also geht es weg von Härte und hin zu Stärke. Ich glaube, das Thema Soft Skills, zu wel- chem die emotionale Intelligenz gehört, löst bei Polizeiorganisationen teilweise noch Gedanken aus, dass diese «Weichfaktoren» keinen Platz in Ausbildungen benötigen. Oder der Fokus wird immer wieder auf andere Ausbildungen gelegt, was ich teilweise auch verstehen kann. Polizistinnen und Polizisten werden in der heutigen Zeit mit so vielen Faktoren und Einflüssen konfrontiert und sind im Dienst gefordert, dass Ausbildungen zu digitaler Transformation, polizeilichen Ermittlungsverfahren, Cybercrime und so weiter bevorzugt werden.

Inwiefern könnte oder sollte dieses Thema noch besser in den Polizeikorps und deren Weiterbildung verankert werden?

Es ist schon mal wichtig, dass den Polizeikorps bewusst wird, dass diese Fähigkeit den Polizistinnen und Polizisten sehr wertvoll und im Umgang mit Menschen auch sehr nützlich ist. Bereits bei der Rekrutierung sollte dieser Fähigkeit Beachtung geschenkt werden. Da geht es nicht nur um den IQ, sondern eben darum, wie ausgeprägt der EQ ist. Das kann mit Tests evaluiert oder noch besser in Interviews angesprochen werden. Diese Kernkompetenz sollte auch in der Polizeikultur verankert sein. Wertschätzung, Menschlichkeit, Vertrauen und so weiter sind Werte, die zu den sozialen Kompetenzen und somit zur emotionalen Intelligenz gehören. Um den roten Faden beibehalten zu können, ist es wichtig, diese Kompetenz in den Polizeikorps in Weiterbildungskursen oder in Führungslehrgängen zu thematisieren, über Erlebnisse zu sprechen, Wissen zu vermitteln und Strategien mit an die Hand zu geben. Aber nicht nur in den Polizeikorps sollte dieses Thema besser verankert werden. Bereits in der Polizeischule sollte diese Kernkompetenz den Aspirantinnen und Aspiranten aufgezeigt und geschult werden. Ebenso wäre es zielführend, wenn diese Fähigkeit für Polizistinnen und Polizisten zukünftig auch übergeordnet am SPI in Kursen angeboten werden würde. Wir dürfen eines nicht vergessen: In Einsatzsituationen müssen negative Gefühle wie Ärger, Angst oder Wut unterdrückt beziehungsweise reguliert und in ihrem Ausdruck gehemmt werden. In Interaktionen mit unfreundlichen, arroganten oder aggressiven Bürgern oder Tatverdächtigen wird Neutralität oder Gelassenheit verlangt. Andererseits erfordern das berufliche Leitbild und das professionelle Auftreten einen adäquaten Ausdruck von Gefühlen wie Empathie und Mitgefühl in emotional belastenden Situationen, beispielsweise bei der Betreuung von Gewaltopfern. Das sind viele Anforderungen an Polizistinnen und Polizisten, ob mit 22, 34 oder 55 Jahren. Und wenn ich diese Emotionen über eine Zeitdauer nicht mehr regulieren kann, entsteht eine emotionale Dissonanz, was zu Stress, Burn-out, Depressionen und weiteren Erschöpfungen führen kann.

Werden Sie in Ihrer täglichen Arbeit mehrheitlich von einzelnen Polizistinnen und Polizisten oder eher von Polizeikommandos, also seitens der Führungsebene, um Unterstützung gebeten?

Aktuell ist es so, dass wenige Polizeikommandos auf mich zukommen, sondern es ist umgekehrt: Ich gehe aktiv auf die Polizeiorganisationen zu. Aber jetzt wissen sie ja, dass es mich gibt (lacht). Mir ist es auch aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen ein grosses Anliegen, dass dieser Fähigkeit mehr Beachtung geschenkt wird. Diese Kompetenz ist ein absoluter Mehrwert für alle Polizistinnen und Polizisten in ihren täglichen Einsätzen wie auch innerbetrieblich im zwischenmenschlichen Bereich. Von einzelnen Polizistinnen und Polizisten wurde ich auch schon angefragt und ich habe sie zu verschiedenen Themen gecoacht.

Wie bringen Sie es unter einen Hut, dass Sie sowohl einzelne Korpsangehörige als auch deren Kommandos beraten?

Wie oben erwähnt, so viel ist es noch nicht (lacht). Ich freue mich aber, wenn ich von den Kommandos nach diesem Artikel kontaktiert werde. Schliesslich wollen doch alle Polizeikorps ihre Mitarbeitenden mit dieser Zukunftskompetenz ausrüsten. Ich bringe es also sehr gut unter einen Hut. Und die Coachings mit den einzelnen Polizistinnen und Polizisten sind ja absolut vertraulich und haben nicht nur mit den emotionsbezogenen Anforderungen in der Polizeiarbeit zu tun. Es geht beispielsweise auch um Unterstützung und Begleitung bei der Bewerbung auf eine Kaderfunktion.

Die 48 ­jährige Claudia Räber war 24 Jahre lang als Polizistin bei der Polizei Basel­Landschaft tätig.
Sie leitete zuletzt die Grundausbildung und war stell­ vertretende Leiterin der Aus­ und Weiterbildung.

In dieser Funktion war sie auch Mitglied der Fachkom­ mission Aus­ und Weiterbildung an der IPH Hitzkirch und leitete diese Kommission in den Jahren 2020 und 2021 als Vorsitzende. Parallel dazu absolvierte sie nebst einem MAS in Leadership&Management an der ZHAW auch ein Fernstudium zu emotionaler Intelligenz und sozialer Kompetenz ASAS. Ihre Master­ arbeit fokussierte sich auf die emotionale Intelligenz in der Führungsarbeit bei der Polizei und auf die Implementierung eines gemeinsamen Führungs­ verständnisses auf Basis der emotionalen Intelligenz innerhalb hierarchischer Organisationsstrukturen. Während ihrer aktiven Zeit in der Sicherheitspolizei war sie Teamleiterin auf einem Polizeistützpunkt und wirkte in der Milizfunktion auch als Schiess­ instruktorin sowie Taktikinstruktorin im Korps und an der IPH Hitzkirch. Als Mitglied der Interventionseinheit war sie unter anderem am WEF in Davos und an der EURO 08 in Basel als Personenschützerin im Einsatz. Im Januar 2024 hat sich Claudia Räber selbstständig gemacht und gibt als EQ­-Expertin für Polizei­ und Blaulichtorganisationen Workshops für Führungskräfte wie auch für Sachbearbeitende. Weiter begleitet und unterstützt sie als Mentorin Polizistinnen und Polizisten auf ihrem beruflichen Karriereweg und in der Entwicklung und Stärkung ihrer Persönlichkeit. Speziell für Frauen bietet sie das Mentoring­Programm «safe. strong. successful.» an. Claudia Räber gibt zudem Sicherheitstrainings für diverse Unternehmen und Institutionen im Eigenschutzmanagement, in der emotionalen Intelligenz sowie im Deeskalations­ management. Sie trainiert seit über 20Jahren Krav Maga und hält als Advanced­Instruktorin auch Selbst­ verteidigungskurse für Sicherheitsorganisationen. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, welcher ebenfalls Polizist und Cop­Coach ist, führt sie die Firma Claudia Räber Management.

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