«Wir wollen kein Fitnesscenter sein!»

INTERVIEW MIT ROLAND MING VON GABRIELA RÖTHLISBERGER

Bereits im Jahr 1921 gegründet, kann der FC Reinach nicht ohne Stolz auf eine traditionsreiche Vergangenheit zurückblicken – doch aktuell fallen die Zukunftsperspektiven signifikant ins Gewicht. Als einer der grössten Vereine in der Nordwestschweiz versucht der FC Reinach, die Gratwanderung zwischen Nostalgie und Realität mit Bravour zu meistern.
Unsere Gesellschaft wird mehr und mehr von Schnelllebigkeit geprägt. Wer seine kostbare Freizeit gestalten möchte, sieht sich mit unzähligen Möglichkeiten konfrontiert – die Zeiten, als es lediglich den Musik- und den Turnverein im Dorf gab, sind längst passé. Die Work-Life-Balance hat für die meisten Leute einen bedeutenden Stellenwert, weshalb sie ihre Engagements auch sehr bewusst auswählen. Diese neue Richtung der Dynamiken kann dem erfolgreichen Fortbestand eines Sportvereins den einen oder anderen Stein in den Weg legen.

Herr Ming, Sie sind momentan Ehrenpräsident des FC Reinach und waren von 1993 bis 1998 sowie von 2011 bis 2021 im Amt des Präsidenten tätig, sind also mit der Vereinskultur von Reinach überaus vertraut. Passt der im Laufe der Jahrzehnte veränderte Lebensstil überhaupt noch zum guten, alten Vereinsleben?
Im Grunde genommen stellen Sie damit bereits zum Start unseres Gesprächs die Gretchenfrage. Ich stehe dem heutigen Vorstand rund um meinen Nachfolger Biu Phan nach wie vor sehr nahe – zum einen aufgrund freundschaftlicher Verbindungen und zum anderen aufgrund meiner Söhne, die selbst in den Seniorenteams spielen respektive dem Vorstand angehören. Und wenn ich den Schilderungen des heutigen Vorstands Glauben schenke, dann dreht sich mehr als die Hälfte der Themen um genau diese von Ihnen angesprochene Entwicklung.
Wir sind uns alle bewusst, dass wir als FC Reinach die gesellschaftliche Entwicklung nicht beeinflussen können. Insofern ist meine Antwort auf Ihre Frage «jein». Das «alte Vereinsleben» findet in der heutigen Zeit nur noch bedingt seinen Platz. Das ist auch der Grund, weshalb wir die Ziele und Strukturen hinterfragen und den Verein weiterentwickeln müssen.

Kann der FC Reinach trotz der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfolgreich in die Zukunft geführt werden?
Natürlich ist das möglich. Die Frage ist nur, wie viel von unserer Vereinsidentifikation wir mit auf diese Reise nehmen können. In unseren Vereinsstatuten wird der Zweck wie folgt definiert: «Er bezweckt die Ausübung des Fussballsports sowie die Pflege der Kameradschaft und Geselligkeit.» Schauen Sie, wir könnten mit unserer Infrastruktur und der sich abzeichnenden Nachfrage bereits in wenigen Monaten eine professionelle Fussballschule mit dem Charakter eines Fitnesscenters eröffnen. Die Beiträge würden sich ungefähr verzehnfachen und die Konsumation der Leistung stünde im Vordergrund. Die Entscheidungen in der Führung würden sich auf wirtschaftliche Gedanken und sportlichen Erfolg beschränken.

Gut möglich, dass wir mit diesem Modell auch die besseren Fussballer*innen entwickeln könnten. Der Vereinszweck, nämlich die Pflege der Kameradschaft und Geselligkeit, bliebe auf der Strecke. Dies sind jedoch wichtige Vereinswerte, weshalb dieser Weg keine echte Option für uns ist. Die Frage, die sich uns stellt: Wie können wir in Zukunft der Nachfrage gerecht werden, ohne dabei unsere Werte über Bord zu werfen?

Sehen Sie den FC Reinach zum heutigen Zeitpunkt noch als einen klassischen Dorfverein an – oder ist er vielleicht längst über diesen Status hinausgewachsen?
Nein, ein klassischer Dorfverein sind wir schon lange nicht mehr. Als Agglomerationsgemeinde mit einer hervorragenden Infrastruktur sind wir nicht nur aus Identifikationsgründen, sondern auch aus logistischer Betrachtung eine spannende Adresse. Zudem bekommen wir die Entwicklung der Globalisierung mit zwei benachbarten internationalen Schulen ebenfalls direkt zu spüren. Gepaart mit der kommerziellen Entwicklung des Fussballs beschert uns das bis heute 32 Teams, welche wöchentlich ein bis drei Trainingseinheiten absolvieren. Hinzu kommen dann nochmals rund ein Dutzend Heimspiele pro Woche. Dabei noch von einem Dorfclub zu sprechen, wäre wohl eine nostalgische Verblendung (lacht).

Welchen Stellenwert nimmt der FC Reinach in der Region ein?
Als grösster Verein in Reinach werden wir in erster Linie durch unser Domizil auf der Sportanlage Fiechten und durch die Teilnahme an zahlreichen öffentlichen Anlässen wie der Fasnacht, dem Jazz Weekend und dem Lottomatch wahrgenommen. Hinzu kommt ein klarer Leistungsauftrag gegenüber der Gemeinde Reinach. Hier steht die Förderung von Kindern und Jugendlichen im Fokus. Aktuell sind wir 987 Vereinsmitglieder, welche durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder das optische Erscheinungsbild, beispielsweise Junioren im FC-Reinach-Trainer, für Präsenz und somit auch für einen bestimmten Stellenwert sorgen.

Roland Ming, Ehrenpräsident FC Reinach und Biu Phan, Präsident FC Reinach

Wie gut ist die gegenwärtige Infrastruktur des FC Reinach aufgestellt?
Es kommt immer darauf an, wen man fragt (lacht). Die Infrastruktur auf der Sportanlage Fiechten, welche uns von der Gemeinde Reinach zur autonomen Verwaltung zur Verfügung gestellt wurde, ist hervorragend und sucht in der Region sicherlich ihresgleichen. Unser Staff ist jedoch sehr ehrgeizig und würde in manchen Teams auch vier- bis fünfmal pro Woche trainieren lassen (lacht). Wenn ich dann die Anzahl unserer Teams in Erinnerung rufe, ist klar, dass die Infrastruktur auch nicht überdimensioniert ist. Das Projekt ist auch noch nicht zu 100 Prozent abgeschlossen. Es sieht nämlich vier Teiletappen vor:

  1. Bau von Restaurant, Garderoben und Hauptplatz (erster Kunstrasen)
  2. Zweiter Kunstrasen
  3. Sanierung des Naturrasens
  4. Parkplatz

Wir sind zuversichtlich, dass wir auch die dritte und vierte Etappe in den nächsten Jahren zusammen mit der Gemeinde Reinach umsetzen können.

Das hört sich ganz danach an, dass der Aufwand für Pflege und Administration in den letzten Jahren enorm gestiegen ist.
Ja, das ist so. Die Gemeinde Reinach stellt uns die Infrastruktur zur Selbstverwaltung zur Verfügung. Zudem erhalten wir einen Betrag aufgrund des Leistungsauftrags. Entsprechend haben wir nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen können wir frei wirtschaften und zum Beispiel auch Zusatzeinnahmen durch Fremdvermietung generieren. All das bedeutet Zusatzaufwände in Sachen Facility-Management und Administration. Diese werden grösstenteils ehrenamtlich aufgefangen.

Ist es heutzutage noch möglich, dass die Vereinsstruktur, wie oftmals in vergangenen Zeiten, mehrheitlich ehrenamtlich gestemmt wird?
Ja, das ist es. Sehen Sie, das Problem sind nicht in erster Linie die zusätzlichen Aufgaben aufgrund unserer Grösse. Die Herausforderung besteht darin, dass der Vereinsapparat stetig wächst und parallel dazu die Bereitschaft, ehrenamtliche Arbeit zu leisten, auf immer weniger Schultern verteilt wird. Das bedeutet, dass die Wenigen, welche die Vereinswerte noch aktiv leben, sehr stark beansprucht werden. Hinzu kommt, dass immer mehr Mitglieder als Konsumenten auftreten und sich auch entsprechend verhalten – ganz nach dem Motto «wer zahlt, der bestimmt». Teilweise ist diese Haltung der gesellschaftlichen Entwicklung geschuldet. Wir müssen hier aber auch selbstkritisch sein. Wir können unsere Mitglieder nur aktivieren und motivieren, wenn wir sie wieder näher an die Entwicklung, Geschehnisse und Entscheidungen der Vereinsspitze holen. Denn das Wachstum in den letzten Jahren hat hier ganz offensichtlich zu einer Distanzierung und somit zur Abschwächung der Identifikation und Motivation geführt. Hier gibt es viel zu tun.

Was sollte ein Präsident eines Fussballvereins nebst Engagement und der Passion für diesen Sport zusätzlich mitbringen?
Ein dickes Fell, Fingerspitzengefühl, politisches Geschick, das Bedürfnis, sich zu vernetzen, gute Strategiekenntnisse, Ausdauer, gute Menschenkenntnis, geradlinige Kommunikation und die Fähigkeit, Themen anzusprechen, welche nicht nur zur Heiterkeit beitragen.

Welche konkreten Aufgaben oder, anders gefragt, welches Betätigungsfeld hat der Vereinspräsident des FC Reinach?
Beim FC Reinach hat der Präsident zwei Schwerpunkte, welche er meistern muss. Nach innen sind dies die Vorgabe der Jahresagenda inklusive strategischer Inputs und Abstimmung sowie die Möglichkeit einer Planung und Durchführung der Generalversammlung. Nach aussen sind es vor allem repräsentative Aufgaben gegenüber der Gemeinde, dem Fussballverband NWS und den anderen Vereinen aus der Region.

Und welche Rolle obliegt einem Ehrenpräsidenten im Vereinswesen?
Ich bin derjenige, der am Mittwochabend jeweils zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens das Licht in unserem Vereinsrestaurant löscht (lacht). Quatsch! Anders als die übrigen Funktionäre habe ich als Ehrenpräsident keine Stellenbeschreibung und das geniesse ich auch. Das heisst, ich kann mich nun auf die Themen konzentrieren, welche mir leicht von der Hand gehen und mir auch am meisten Freude bereiten. Dazu gehört weiterhin die Förderung der positiven Wahrnehmung des Vereins bei seinen verschiedenen Anspruchsgruppen. Des Weiteren bin ich für Biu Phan eine Art «Präsipedia». Nach insgesamt 15 Jahren als Präsident gibt es noch das eine oder andere, welches nur in meinem Kopf dokumentiert ist (lacht). Zudem bin ich als Vizepräsident der Donatorenvereinigung das Bindeglied zum Verein.

Der FC Reinach agiert unter anderem nach einem Leistungsauftrag der Gemeinde. Können Sie mir diesen Sachverhalt näher beleuchten?
Die Gemeinde Reinach stellt dem FC Reinach die Infrastruktur zur Verfügung. Im Gegenzug bereichert der FC Reinach das sportliche Angebot der Gemeinde, inklusive Restaurantbetrieb. Durch das Führen der Junior*innenabteilung leistet er einen wichtigen Beitrag zur Jugendarbeit und fördert damit insbesondere die Entwicklung von Teamgeist und Gemeinschaftsgefühl sowie die Integration von ausländischen Jugendlichen in unsere Gesellschaft. Er leistet einen Beitrag zur Gesundheitsförderung, indem er auch für Erwachsene Mannschaften verschiedener Alterskategorien und Stärkeklassen führt.

Meinem Empfinden nach ist der Frauenfussball seit einiger Zeit in den Medien sehr präsent. Hat sich Ihrer Meinung nach der Frauenfussball in der Schweiz etabliert?  Ich teile Ihre Wahrnehmung in Bezug auf die Entwicklung der medialen Präsenz des Frauenfussballs. Nicht zuletzt deshalb ist auch bei uns der Bereich Frauenfussball in den letzten zwei Jahren nochmals stark gewachsen. Ich denke aber, es ist noch zu früh, um von einer Etablierung zu sprechen. Es ist absolut richtig, dass der Frauenfussball durch das öffentliche Fernsehen und Radio in der Schweiz eine Plattform erhält. Wenn ich aber in Richtung Privatwirtschaft, im Speziellen in den Bereich Sponsoring, schaue, dann befindet sich der Frauenfussball noch weit weg von anderen erfolgreichen Frauensportarten wie etwa dem Ski Alpin oder dem Tennis. Damit meine ich, dass dieser Sport in der Schweiz nochmals eine grosse Entwicklung vorwärts machen wird, sobald es möglich sein wird, einen schönen Lebensunterhalt damit zu verdienen.

Ein Mannschaftssport kann für Kinder und Jugendliche wertvoll sein, fast so etwas wie eine Lebensschule. Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Funktion als Trainer von Junioren gesammelt? Die Begegnung und der Umgang mit Junioren kann für Junioren und Trainer eine Lebensschule sein. Wie reagieren Kinder und wie reagiert der Trainer auf verschiedene Verhaltensweisen? Beide Seiten können einmal als «Gewinner» und ein anderes Mal als «Verlierer» vom Platz gehen. So oder so formt es den Charakter. Als Trainer freuen mich die kleinen Fortschritte, die erkennbar sind. Ob das nun ein charakterlicher oder ein sportlicher ist, spielt keine Rolle. Es erfüllt mich aber noch heute mit Stolz und grosser Freude, wenn ehemalige Schützlinge auf mich zukommen und «Sali» sagen – offenbar habe ich vieles richtig gemacht.

Stichwort Talentschmiede: Wie wird mit diesem Thema in der Region umgegangen?
Bei den Amateurvereinen in der Region steht wohl die Förderung des Nachwuchses und der Aufbau nachhaltiger Strukturen, nicht der kurzfristige Erfolg einer ersten Mannschaft im Vordergrund, verbunden mit möglicherweise höheren Investitionen. Das Fundament des Breitensports ist zu stärken, damit aus dem Pyramidensystem regelmässig Talente entdeckt und gezielt gefördert werden können.

Wie wichtig ist eine gute Verknüpfung von Breiten- und Spitzensport für die Zukunft des Fussballs – ganz allgemein gesehen?
Diese Verknüpfung war schon immer ein wesentlicher Teil des Erfolgs dieser Sportart und bildet eine Beziehung der Wechselwirkung. Der Spitzenfussball benötigt den kommerziellen Motor, welcher zu einem Grossteil durch den Breitensport gespeist wird. Umgekehrt benötigt der Breitensport die grossen Fussballbühnen wie etwa eine Weltmeisterschaft oder ein Cupfinale, um Nachwuchs rekrutieren zu können. Und dann wiederum benötigt der Spitzensport eine möglichst breite Basis, welche in Bezug zur Talentförderung funktioniert, um selbst wieder «Breite in der Spitze» zu generieren. Man kann also das eine nicht erfolgreich ohne das andere betreiben und an diesem Grundsatz halten wir uns auch beim FC Reinach. Es benötigt eine konsequente Talentförderung, um Perspektiven und Vorbilder zu entwickeln. Und es benötigt jeden Einzelnen zur Schaffung von Rahmenbedingungen, Freude, Geselligkeit, Strukturen und Organisation.

Andere Vereine bezahlen ihre Spieler*innen bereits in der dritten Liga, der FC Reinach nicht. Gibt es spezielle Gründe für diese kommerziellen Bedingungen?
Der FC Reinach kann nicht für andere Vereine sprechen, aber je höher die Spielklasse und der Aufwand, desto mehr treten in der Regel wohl Zahlungen an Spieler*innen auf. Zahlungsverpflichtungen muss man dauerhaft nachkommen können, ansonsten kann es bis zur Gefährdung der Vereinsexistenz führen. Bei praktisch allen Vereinen finanziert sich deren Budget überwiegend aus Mitgliederbeiträgen. Da sollte bewusst und vermehrt in die Vereins- und Jugendarbeit investiert werden: Material, Qualifikation von Funktionären, Ausbau von Strukturen und Sanierung von Sportanlagen. In dieser Hinsicht besitzt der FC Reinach ein gesteigertes Mass an wirtschaftlicher Vernunft in der Vereinsführung.

Um beim Thema Finanzen zu bleiben: Finden Sie die derzeit üblichen extrem hohen Transfersummen auf internationaler Ebene gerechtfertigt?
Der Spitzensport ist bereits seit einigen Jahren ein Teil der Wirtschaft geworden. Deshalb funktioniert zum Beispiel der Profifussball nach dem das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Wenn ein Verein bereit ist, sehr grosse Summen für Ablöse oder Lohn eines Spielers auszugeben, rechnet er damit, dieses Geld in anderer Form wieder einzuspielen. Der Konsument ist ein Glied in dieser Kette und steuert ebenfalls seinen Teil dazu bei. Allerdings sollte man objektiv bleiben. Wir reden von einem Dutzend Spieler auf mehrere Millionen lizenzierte Fussballer. Das ist ja nicht stellvertretend für diesen Sport.

Welche Pläne und Strategien strebt der FC Reinach in den nächsten fünf Jahren an?

  • Leistungskonzept (Leistungspyramide) mit leistungsorientierten Mitgliederbeiträgen —> wir wollen in fünf Jahren in der Erstliga spielen
  • Steigerung der Identifikation und Engagement mittels neuen Kommunikationsformen und Anreizen (Mitglieder näher an den Verein bringen)
  • Professionalisierung weiterer Teilbereiche (heute nur Trainer und Coaches)

Die Gesellschaft verändert sich und wir müssen das schliesslich auch tun.

www.fcreinach.ch